Sprache lebt durch die Stimmen, die sie nutzen.
Dieser Blog ist den Stimmen verschiedener literarischer Sprachreisenden gewidmet.
Er soll anregen und die Neugierde wecken für die verschiedensten Sprachabenteuer.
Ein persönliches Gedicht dieser Bloggerin lässt Dich werter Gast in die Gefühls-Welt der literarischen Perlen eintauchen.
Abgeschmeckt sind die Beiträge mit der Prise eines jedem Werk gewidmeten Gewürzes. Denn wie literarische Ausflüge verleiht die richtige Würze unserer Seele jene Flüge, die dem Leben Vielfalt bescheren.
So nun denn, genug des Vorgeschreibes. Tauchen wir ein in die Sprachwelten.
Anfang April 2024
Banana Yoshimoto – Ein seltsamer Ort
Es soll ihr letztes Werk sein. Die letzten Zeilen dieser Autorin, die dem Alltäglichen und vermeintlich Einfachen einen besonderen Zauber einzuhauchen weiss. Ein seltsamer Ort ist es wahrlich, an den uns Banana Yoshimoto in ihrem Roman entführt. Wir erinnern uns an die drei Kurzgeschichten über das Mysterium der lebend Entschlafenden in Dornröschenschlaf, den drei in 2001 erschienen Erzählungen über die Nacht.
So dreht es sich auch hier um eine tief im Schlaf Gefangene, die Mutter der beiden Hauptpersonen Mimi und Kodachi. Die beiden Zwillingsschwestern, die eigentlich ihrem vermeintlich eigenen Schicksal in Tokyo folgen, werden zurück in ihre Heimatstadt Fukiage geführt. Dort machen sich beide auf, ihre Mutter zu retten, um dabei auf eine verborgene Sage und eine Welt zu stossen, die jenseits des All-Täglichen herrscht.
Wer sich ab und an in der Welt der Mangas tummelt oder sich nicht scheut, auf den Spuren Charles Dexter Wards oder Francis Wayland Thurstons, zweier bekannter fiktionaler Figuren aus der Feder H.P. Lovecrafts, zu wandeln, der wird sich in diesem Werk von Banana Yoshimoto ab Seite 1 abgeholt fühlen. Für alle anderen empfiehlt sich bei diesem Werk ausnahmsweise erst das Nachwort zu lesen. Weshalb? Das wird sich Dir erschliessen.
Wie immer bei Banana Yoshimoto, ist auch diese Lektüre wie Muskatnuss zu geniessen. In Prisen und mit Mass wirkt sie samten mit dem gewissen „Etwas“ auf den Lesegaumen. Wie im Falle von Muskatnuss entfalten sich deren heilende und den Geist beruhigende Wirkungen bei bewusster Dosierung. Ähnlich dem aus Südostasien stammenden Gewürz des Lebens, wie der Muskat und die Muskatblüte auch genannt werden, das in zu hoher Dosierung das Tor zur haluzinogenen Wahrnehmung öffnen kann, wirkt auch Banana Yoshimotos Schreibe intensiv nach.
Doch nun zum Geleit noch folgende Zeilen:
Selt-sam
Un-gewöhnlich
Nur spärlich jemals wahrnehmbar
Selt-sam
Un-gewohnt
Fern des gewohnt täglich erlebbaren
Dieser sachte kühle Hauch
Der dich sanft am Nacken streichelt
Deine Haut kräuseln lässt
Dieses Wissen,
Dass da etwas ist,
Das fernab jeden Wissens geschieht
Beschreite nur mutig den Weg
Dann wirst du finden,
Was sich verbirgt in Fukiage.
Im Karteikasten unter: Banana Yoshimoto. Ein seltsamer Ort. Diogenes, 2023.
Zu Weihnachten 2023
Barbara Pallecchi - Das Leuchten im Dunkeln
Wie der aromatische Duft von Myrrhe umwehen mich noch nach Wochen seit deren Lektüre die Gedanken, Geschichten und Erlebnisse von Mila, der Hauptperson in Barbara Pallecchis Roman „Das Leuchten im Dunkeln“. Eine selbstbewusste, taffe und intelligente Lady, die voller Tatendrang ihrem Lebens- oder vielmehr Karriereweg folgt. Bis das Leben das tut, was es ab und an mit einem bitter süssen Lächeln auf den Lippen macht – es ändert die Kurvenführung. Wir dürfen mit der Protagonistin in Barbara Pallecchis Werk hautnah Kursänderung, Bergrennen und Talfahrten miterleben, erfühlen und durchleiden, die ihren Lauf durchs Leben neu zu bestimmen suchen. Bisweilen schmerzend wie die spitzen Dornen des Myrrhestrauchs begleiten wir Mila tapfer über holprige Wege, voller Zweifel jedwede Spuren suchend, die (Un-)Sinn und Richtung der eigenen Vita zurückgeben sollen. Tief tauchen wir in die dunkelsten Gefilde des Ozeans des Seins von der Protagonistin und erkunden dabei nach Lebensatem ringend unweigerlich auch die undurchsichtigen Gefilde unseres Selbst. Dann wiederum spenden kurze lichtspendende Momente, wie Perlen des gold-braunen Myrrhenharzes, jenen Wunden Tropfen für Tropfen Balsam, welche die Seele bluten liessen.
Das Werk von Barbara Pallecchi lässt die Leserschaft sicher nicht in Ruhe weilen. Es zieht, zerrt, rupft, ruckelt und rüttelt an unserem Inneren. Und gleichzeitig ist es in keiner Zeile überzogen. Wir gehen mit Mila ihren bisweilen an den Kräften zehrenden Weg, weil er eines ist: ECHT. Und wie bei Pandora bleibt auch hier schliesslich auf dem Boden der Tatsachen Eines erhalten:
Eine
Prise
Täglich
nur die eine Dosis
Bitter
HERB
K-
ein Genuss
ein MUSS
Ein Tropfen
auf die
vor HEITERKEIT BLUTENDE SEELE
der Balsam,
der hilft gegen
all die –keiten,
wohl bedacht,
sachte
auf die Wunden
tröpfelnd,
ist sie,
die treue
GEFÄHRTIN,
stets
an deiner
Seite,
setzt
wie eine von der Sonne gewärmte Hand,
SCHERBE um Scherbe,
SPLINTER
für Splinter,
zusammen, was mit Kraft
zerbrochen,
unbedacht
zerrissen, in
EINZELTEILE zerlegt
BIS ich
auf-erstehe und
er-wache,
die eine
mit dem Namen
HOFFNUNG
Im Karteikasten unter: Barbara Pallecchi. Das Leuchten im Dunkeln. edition bücherlese, 2023.
Dritter Sonntag im Oktober 2023
Auch eine Faust war einmal eine offene Hand
Was sagen? Was raten? Was schreiben?
Jedes Wort, egal wie gewählt, scheint vor meinen Augen zu verblassen und ohne Bedeutung im Raum stehen zu bleiben.
Noch vor einigen Wochen durfte ich durch die Gassen von Yafo schlendern, auf dem Herzlberg der Geschichte und ihrer Opfer gedenken und tief im Herzen berührt über die Dächer Jerusalems wandern. Und nun, da weiss ich selbst grad nicht wohin mit mir angesichts all der aktuellen Geschehnisse. Schock, Trauer, Wut, oder Angst, Ungewissheit und Ratlosigkeit? Am Ende, alles nur Worte leere Hüllen, so rasch daher geworfen, als ob sich dadurch die Welt erklären, etwas ändern liesse. Und doch, sehne ich mich nach Zeilen, die mir Erklärung, Trost und Hoffnung spenden.
Und so kam es, dass ich heute, immer noch nach Antworten suchen, die es wohl nicht gibt, über ein kleines Büchlein stolperte, das schon seit Jahren in meinem Regal schlummert. Ein Gedichtband des israelischen Dichters Jehuda Amichai. Und mit der Stimme eines Verschiedenen aber weder Verblichenen noch Verstummten hebeln die Worte dieser in Israel tief verwurzelte Seele, das eigene Gedankenkarussell mit einem Ruck auch den Angeln: „Auch eine Faust war einmal eine offene Hand“.
Und so fand auch ich durch die Worte Jehuda Amichais wieder zurück zu den meinen.
Sachte
Ganz leise
Fallen sie,
Wie Blätter von Bäumen
Es ist Herbst
So denkst Du,
Da ist das doch ganz natürlich,
Dass sie welken
Vom Winde verweht
Wie pathetisch
Steh ich dann da
So ganz ohne Halt
Und da möchte ich glauben
Denn Dies zu wissen,
Das wag ich jetzt und hier
Noch nicht
Dass mit jeder einzelnen,
Die sachte meine Wange hinunterrinnt
Eine neue Knospe leisen Hoffens
Sanft erblüht
Doch noch
So steh ich da
Und lasse ihr freien Lauf
Jener auserlesenen einen, die mein Auge jetzt benetzt
Denn nur sie ist erschaffen,
Um zu fallen
Nicht all die Anderen,
Die nie mehr erwachen
Im Karteikasten unter: Jehuda Amichai. Auch eine Faust war einmal eine offene Hand. Piper Verlag, 1994.
Angang Oktober 2023 - Denn der Letzte, der zählt
Herbert Clyde Lewis - Gentleman über Bord
Am Ende zählt jeder Tag, den wir erleben dürfen. Denn ein jeder kann der letzte sein. Diese Erkenntnis ereilt Henry Preston Standish auf tragische Weise. Denn eines Morgens rutscht er nichtsahnend, noch im Halbschlaf Mitten im Pazifischen Ozean an Deck eines Dampfers auf einer Öllache aus und stürzt in das kühle Nass. Was sodann folgt, eine auf knapp über 150 Seiten verdichtete Geschichte der letzten Stunden in einem Leben. Langsam verstreichende Sekunden, Minuten, gar Stunden. Alleine vor sich hindümpelnd. Keine Rettung in Sicht weit und breit. Nur ab und an ein paar nicht allzu neugierige Tümmler. Ansonsten nur Sonne, kühles Nass.
Was ist da noch wichtig?
Was zählt? Wohin schweifen die Gedanken ab?
Was bleibt vom Leben zurück?
Wir sehen uns konfrontiert mit der nackten, schnörkellosen Existenz. Ein schnelles Ende durch einen Hai ist dabei nicht in Sicht, denn in diesen Gewässern finden sich diese Tiere nicht.
Wer jetzt an Tous les hommes sont mortels, La nausée oder den Mythos des Sisyphos denkt, hat nicht weit gefehlt. Doch erschien dieses Werk bereits vor der Zeit des dynamischen Philosophie-Kreises rund um Beauvoir, Sartre und Camus.
Es ist ein kurzer und intensiver Schwumm, auf den Herbert Clyde Lewis die Leserschaft mitnimmt. Wie Salz auf der Zunge und Meereswasser in der Kehle hinterlässt die Lektüre herb-bittere Noten, ein leichtes Brennen in Gaumen und Rachen und ein Sehnen, den wachsenden Durst zu stillen.
Das bringt uns hier nun zum Allerwelts-Gewürtz schlechthin - dem Salz. Das Gewürz, das in der richtigen Dosierung einem Gericht Tiefe und Geschmack verleiht. Wer es jedoch übertreibt mit dem von Weiss bis Rosa glänzenden Würzkorn, entlockt eher Leidens- statt Freudengesänge, ob mit Liebe oder ohne.
Als Kulturrevolution, in der Zeit des Wechsels der Menschen von Jägern und Sammlern zu Landwirten, da findet das Salz seinen Ursprung. Seit der Jungsteinzeit ist dieses Gewürz aus jeglicher Küche nicht mehr wegzudenken. Ob als Himalayasalz, Meersalz oder Fleur de Sel, mit Kräutern und Gewürzen angereichert oder pur findet es zur Zubereitung verschiedenster Gerichte Anwendung. Da unser Körper zu drei Viertel aus salzhaltiger Flüssigkeit besteht, ist das weisse Gold gleichzeitig eines der ältesten Heilmittel der Menschheitsgeschichte, erhält es doch unsere Lebensgeister. Bisweilen wird es auch in der Schönheitsindustrie als Hautpflege-Mittelchen geschätzt. Kaum verwunderlich, dass es in den Mythen der Griechen und Römer, in der Edda, in verschiedenen religiösen Schriften sowie in diversen Sagen als Symbol des Göttlichen, der Weisheit oder des Guten gilt.
Dann schwimm
So es nicht anders geht
Strample bis dir die Schmerzen
Im ganzen Körper Zuckungen versetzen
Dann schwimm
Denn etwas anderes bleibt Dir
In diesem Augenblick
Genau jetzt
Weder gestern noch überübermorgen
Nicht übrig
Dann schwimm
Lass Arme und Beine
Mal in rhythmischem Hin und Her
Dann wieder wild und unbeherrscht
Durch dieses durchdringend kalte Nass
Gleiten
Zur Belohnung
Werden dich die sanften Wellen nähren
Dann schwimm
Bis der herbe, leicht die Kehle verbrennende
Geschmack in deinem Mund
Das Letzte ist, das bleibt
Im Karteikasten unter: Herbert Clyde Lewis. Gentleman über Bord. (Originaltitel: Gentleman Overboard.). Erstmals erschienen 1937. Neuveröffentlichung mareverlag 2023.
Als Leseempfehlung von Campino und Elke Heidenreich wurde diese Novelle im Literaturclub des Schweizer Fernsehens im April 2023 diskutiert.
September 2023 - Denn jedem Tag wohnt ein Zauber inne
Patti Smith - Book of Days
Jedem Morgen weilt eine bisweilen eigenartige Stimmung inne. Mal herb und kühl, dann wieder süss und wohlig. Die ersten Stunden jedes neuen Sonnenaufgangs sind für sich einzig und unwiederbringlich.
Eine tägliche Begleitung für die Momente zwischen Wach und Traum, Welten-Getümmel und sanftem Morgen-Schleier ist das „Book of Days“ von Patti Smith. Für jeden Tag des Jahres hat die Poetin, Literatin, Punk-Rockerin, Künstlerin und meine persönliche Quelle der Inspiration das Jahr in Polaroid-Photographien und kurzen Texten festgehalten.
Wer jemenitischen Kaffee oder Qishr kennt, weiss um das Geheimnis eines die Seele berührenden Genusses dieses Getränks. Nebst Zimt und Kardamom verleiht eine Prise Ingwerpulver dem dunklen Getränk diese schwer zu beschreibende frische, leicht herbe Note, die Geniessende die Lider kurz schliessen lässt.
Ingwer, das aus Südostchina und Nordindien stammenden Allheilmittel Alfons Schuhbecks. Ob als Würze von Speis und Trank, Anwendung in der Heilkunst, als Ingredienz paradieschen Getränks im Koran oder als Bestandteil diverser Heiltränke wie jener der indonesischen Naturmedizin Jamu - die Geschmacks- und Heilkräfte von Ingwer als schmerzstillend, entzündungshemmend und antibakteriell werden heute rund um die Welt geschätzt.
Während nun also diese Prise Ingwerpulver im morgendlichen Kaffee die eigenen Geister zum Leben erweckt. Werden Letztere von den täglichen Einträgen Patti Smiths abgeholt und sanft aus dem diffusen Nebel des Traumlands in die hiesige Welt begleitet.
Lass mich
Nur noch eben kurz
Diesen einen
Meinen ganz persönlichen Moment
Geniessen
Lass mich
Nur noch eben kurz
Eine Weile
In dieser Morgenstunde schwelgen
Schwelgen
Lass mich
Nur noch eben kurz
Für einen letzten Schwank
In die in milden Tau gehüllten Gedankenwelten
Versinken
Lass mich
Nur noch eben kurz
Bevor all das da Draussen
Wie eine Welle über mir
Zusammenbricht
Lass mich
Nur noch eben kurz
Der Welt der Träume auf ein Wiedersehen
Einen letzten tiefen Atemzug
Genehmigen
Im Karteikasten unter: Patti Smith. Book of Days. Random House 2022.
Bereits veröffentlichte Leseempfehlung zu einem weiteren Werk von Patti Smith: M Train. Erinnerungen. Erschienen in: Info-Blatt St. Urban-Seen, Nr. 165/Juni 2020, S. 30.